Auf Anregung der Geschichtsgruppe des Heimatvereins Wulfen 1922 e.V. wurde aus Anlass des 75. Jahrestages der Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 an die Gräueltaten und Exzesse der Nationalsozialisten erinnert.
Im Rahmen einer stillen Stunde enthüllte der Heimatverein Wulfen 1922 e.V. am 10. November 2013 um 11.00 Uhr zum Gedenken an die älteste jüdische Familie im Raum Dorsten am Gebäude der Sparkasse Vest Recklinghausen Geschäftsstelle Wulfen eine Gedenktafel, um sie der Wulfener Bevölkerung zugänglich zu machen. In diesem Haus wohnte die jüdische Familie Moises seit 1930 und betrieb dort eine Textilhandlung.
Die Geschichte der jüdischen Familie Moises soll im Folgenden erzählt werden.
Die jüdische Familie Moises
Der Stammbaum der jüdischen Familie „Moises“ geht bis zum Ende des 1800. Jahrhunderts zurück. Der Ahnherr der Wulfener Linie, Abraham, wurde im Jahre 1766 geboren. Er war verheiratet mit Juttela Michael, gen. Gudel. Er erhielt im Jahre 1800 vom Fürsten Salm-Salm in Ahaus einen Geleitbrief, mit dem er von Anholt an der niederländischen Grenze nach Wulfen zog. Die Familie ist somit wohl die nachweisbar älteste jüdische Familie im heutigen Dorsten.
Abraham war Metzger und Händler. Mit der Kiepe auf dem Rücken betrieb er zunächst einen Kleinhandel in Wulfen, bis er im Jahre 1820 ein Manufakturwarengeschäft eröffnete. Das Dorf Wulfen zählte zu diesem Zeitpunkt etwa 900 Bewohner. Er starb im Jahre 1847 und wurde auf dem jüdischen Friedhof in Wulfen „Auf der Koppel“ begraben. Das Grundstück für den Friedhof hatte er bereits 10 Jahre zuvor erworben.
Sein erstgeborener Sohn Moses, der im Jahre 1819 in Wulfen zur Welt kam, übernahm das elterliche Geschäft. Er war also auch als Händler und Metzger tätig.
Die damalige preußische Regierung erließ am 31.10.1845 ein Gesetz zur Liberalisierung der Namensregelung. Das hieß, dass alle Juden einen „festen vererbbaren Namen“ annehmen mussten.
Da man „Moses“ im Wulfener Dialekt „Moises“ aussprach, so wollte Moses gerne diesen Namen behalten. Der damals amtierende Bürgermeister „Amtmann“ Franz Brunn hat ihm daraufhin folgenden Vorschlag gemacht:
Moses als Vorname
Moises als Hausname
Daraus hat sich im Volksmund dann der Name „Moises Moises“ entwickelt.
Moises Moises lebte mit seiner Frau Henriette Wertheim in zweiter Generation unbeschwert in Wulfen. Er und seine Frau wurden in Wulfen auf dem jüdischen Friedhof beerdigt.
Die nachfolgende dritte Generation mit Meier Moises, der 1862 ebenfalls in Wulfen geboren wurde, brachte mit seiner Frau Johanna Jacob sieben Kinder zur Welt, davon starben drei im Kindesalter. Sie wurden auf dem jüdischen Friedhof in Wulfen begraben.
Über Meier Moises wissen wir, dass er 1882 Schützenkönig des Allgemeinen Bürgerschützenvereins Wulfen und lange Jahre Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr Wulfen war. Er war also festes und geachtetes Mitglied der dörflichen Gemeinschaft. Das hier an dieser Stelle stehende Haus wurde im Jahre 1930 von ihm erbaut. In diesem Haus fanden sie aber nur für kurze Zeit ihr Glück, wie sich einige Jahre später erweisen sollte. Er wurde im Jahre 1937 in Wulfen noch in Frieden auf dem jüdischen Friedhof beigesetzt.
Diese Eingebundenheit in das Gemeinschaftsleben setzte sich mit seinem im Jahre 1900 in vierter Generation geborenen Sohn Josef Moises und seinen Schwestern Henriette (Jettchen genannt), Paula und Adele zunächst fort. Wir wissen, dass Josef im Jahre 1922 Mitbegründer des Heimatvereins Wulfen 1922 e.V. war. Ebenso war er Mitglied des Schützenvereins und der Freiwilligen Feuerwehr. Seine Schwester Adele wurde 1930 vom damaligen Schützenkönig Bernhard Osterkamp zur Ehrendame gewählt.
Umso erschreckender ist, dass Im Jahre 1938 die Familie Moises von den ideologisch verblendeten Nationalsozialisten gedemütigt und misshandelt wurde. Sie wurde gezwungen, das Haus und das darin eingerichtete Textilgeschäft an eine Familie aus Raesfeld zu einem Spottpreis verkaufen. Adele Moises wurde aus dem Dorf getrieben.
Einige Zeit später wurden Adele und ihre Schwester Paula in das Konzentrationslager nach Riga deportiert und kamen dort – wie auch ihre Ehemänner Moritz Falke und Fritz Wieler – ums Leben.
Nationalistisches Denken und Handeln beendete das jüdische Leben dieser Familie in dem Dorf Wulfen.
Josef Moises und seiner Frau Senta sowie seiner Schwester Henriette (gen. Jettchen) gelang es noch, nach Palästina auszureisen. Dort baute Josef eine Obstplantage auf.
Er blieb trotz aller erlittenen Gräuel seinem Heimatdorf Wulfen zutiefst verbunden. Im Jahre 1985 wurde er in Israel zu Grabe getragen. Seine Frau Senta fand ebenfalls einige Jahre später dort ihre letzte Ruhe. Die Schwester Henriette war bereits im Jahre 1966 in Israel verstorben.
Über die Tochter von Josef und Senta Moises, mit Namen Miriam, die bereits in Israel zur Welt kam, wissen wir, dass sie mit Moshe Yust verheiratet war. Von ihm erfuhren wir, dass sie im Jahre 1997 verstorben ist.
Die 5. – 7. Generation in Israel
Der Ehemann von Miriam, Moshe Yust, teilte uns mit, dass aus seiner Ehe mit Miriam zwei Söhne hervor gingen. Die Söhne haben inzwischen selbst insgesamt 14 Kinder.
Tröstlich ist in diesem Zusammenhang die Tatsache – wenn man das so sagen darf – dass es dem Hitler-Regime nicht gelungen ist, die gesamte Familie „auszurotten“, um im Sprachgebrauch dieser Verbrecher an der Menschlichkeit zu bleiben. Die Familie Moises konnte sich mit Miriam, ihren zwei Söhnen und deren 14 Kinder bis heute in die 7. Generation fortpflanzen
Tag des Gedenkens
Sonntag, der 10. November 2013
Das hiesige Gebäude wurde 1960 von der Sparkasse Vest Recklinghausen gekauft. Seitdem wird es von der Sparkasse als Geschäftsstelle Wulfen genutzt. Heute wollen wir an diesem Haus eine Gedenktafel anbringen, um damit an die Familie Moises zu erinnern. Und daran, dass nationalistisches Denken und Handeln das jüdische Leben dieser Familie in dem Dorf Wulfen beendete.
Der Heimatverein wollte mit der Einweihung der Gedenktafel nicht richten oder Anklage erheben, aber viele haben damals weggeschaut, Hilfe unterlassen und nicht zu ihnen gestanden, als sie gewaltsam aus unserer Mitte gerissen wurden.
Vielmehr sollte mit dieser Gedenkstunde an alle Demokraten appelliert werden, dass sich ein solcher Wahnsinn, verbunden mit einer nicht vorstellbaren Menschenverachtung, nie wiederholen darf.
Was unsere Generation und die folgenden daraus lernen sollen, ist, dass sich solches Unheil nie wieder ereignen möge.