1.Vorsitzender des Heimatvereins Wulfen 1984 – 1991
Im Wulfener Wauert Nr. 31 schellte der Wecker stets in aller Frühe. Drei kleine Mädchen wollten vor der Schule versorgt werden. Milch einschenken. Marmeladenbrote schmieren. Vorfreude teilen. Ängste zerstreuen. Pausenbrote
für die Schule belegen. Loben. Ermahnungen aussprechen. Drei Tornister kontrollieren. Zwischendurch Pferdeschwänze binden und der Jüngsten Zöpfe flechten. Sich selbst einen Kaffee aufschütten. Schnell den Einkaufszettel einstecken, um irgendwann am späten Nachmittag die Arbeit zu unterbrechen und alles im Haushalt Fehlende einzukaufen. Schon vor Tagesanbruch hatte Dr. Johann Franz „Hannes“ Schürmann gar nicht wenig zu tun, denn vor allen anderen Anforderungen in seinem Leben stand die Fürsorge für die Töchter. Eine Verpflichtung, mit der ihre kranke Mutter oft überfordert war. Hannes Schürmann kam dieser Aufgabe mit Freude nach. Er war leidenschaftlich gern Vater (später Großvater), Tierarzt und Wulfener. Und zwar ganz genau in dieser Reihenfolge.
Im Vatersein hatte er sich seinen eigenen Vater zum Vorbild genommen. Der Sattler und Polsterer Heinrich Schürmann, Dorf 105, zog nach dem frühen Tod seiner Frau Elisabeth Josephine „Sophia“ seine fünf Söhne alleine groß. Johann „Hannes“, geboren am 11. Januar 1919, war der zweitjüngste und derjenige, dessen Ausbildung dem Vater das meiste Kopfzerbrechen verursachte. Er war der einzige Sohn, der das Gymnasium besuchte. Sollte er an seinem Plan, das Abitur abzulegen, festhalten, würde er noch über etliche Jahre erhebliche Kosten verursachen. Und dann studieren? Wie sollte das gehen? Als selbstständiger Sattler hatte Heinrich Schürmann keine Säcke voll Gold im Keller zu stehen.
Neben dem Vater war auch sein Onkel, der Wulfener Tierarzt Dr. Aloys Schümann, der mit seiner Frau Änne im gleichen Haus wohnte, für Hannes Schürmann ein bewundertes Vorbild, dem es nachzueifern galt. Und so blieb der Knabe auf der Schule und träumte davon, später einmal selber Tiermedizin zu studieren. Für die damit verbundenen finanziellen Belastungen fand sich im Jahr 1937 eine unverhoffte Lösung. Die deutsche Wehrmacht benötigte Offiziere. Deshalb unterbreitete sie in diesem Jahr den Unterprimanern das Angebot einer vorgezogenen Reifeprüfung. Im Gegenzug für das vorzeitig erlangte Abitur sollten sie sich auf unbestimmte Zeit bei der Wehrmacht verpflichten. Geworben wurde mit zahlreichen Vergünstigungen wie kostenlose Unterkunft und Verpflegung in der Kaserne, die Möglichkeit, den Führerschein zu erwerben, die Weiterzahlung des Solds während des Studiums, die Freistellung von Studiengebühren. Zu dieser materiellen Absicherung und der Möglichkeit eines gesellschaftlichen Aufstiegs gesellte sich die Aussicht auf Abenteuer in Form von Fliegen, Segeln, Panzer fahren, usw.. Nicht zuletzt motivierte das Gefühl eines neuen Kameradschaftsgeistes. Was immer junge Männer sich so vorstellen, die sich in Friedenszeiten zum Militär melden und nicht damit rechnen, dass sie als Soldaten in einen sehr reellen Krieg ziehen müssen.
Namentlich Abiturienten, die eine Offizierslaufbahn im human- oder veterinärmedizinischen Bereich anstrebten, wurden gesucht. Hannes Schürmann griff zu.
Nach der Ableistung eines sechsmonatigen Arbeitsdienstes wurde er am 2. November 1937 in einer Veterinärkompanie der Wehrmacht aufgenommen. Erst im August 1945 wurde er wieder entlassen.
Hannes Schürmann war 20 Jahre alt, als 1939 der 2. Weltkrieg begann. Ein Krieg, in dem nicht nur Menschen, sondern auch Pferde, Maultiere, Hunde, Tauben und Ochsen ihren Dienst in der Wehrmacht abzuleisten hatten. Insgesamt wurden auf der deutschen Seite etwa 2,8 Millionen Pferde und Maultiere eingesetzt, von denen rund 1,65 Millionen den Krieg nicht überlebten. Hier sammelte Hannes Schürmann seine ersten Erfahrungen im tiermedizinischen Bereich. Mit seiner Kompanie erlebte er den Krieg in Polen und war beim Frankreichfeldzug dabei. Um ab und an den Kopf ein wenig frei zu bekommen, beteiligte er sich an privaten Boxkämpfen.
Im Jahr 1941 musste Hannes Schürmann erleben, dass Leid und Glück oft nah beieinander liegen. Am 26. August des Jahres verunglückte sein geliebter Onkel, Dr. Aloys Schümann, tödlich. Noch gedrückt durch seinen schweren Kummer erhielt Hannes Schürmann nur kurze Zeit später eine erlösende Nachricht: Nach über 3 1/2 Dienstjahren bei der Wehrmacht und mindestens 2 Jahren im Krieg wurde es ihm ermöglicht, zu studieren. Er erhielt für das Wintersemester 1941 einen Studienplatz an der Tierärztlichen Hochschule Hannover. Rechtzeitig genug, um nicht mehr an der tödlichen Ostfront eingesetzt werden zu können.
Er trat der hannoverschen Burschenschaft Alt-Germania bei. Als gut aussehender Hallodri genoss er das Studentenleben in vollen Zügen. Im Oktober 1946 legte er sein Examen ab und erhielt im Juli 1947 die Bestallung als Tierarzt. Er kehrte zurück nach Wulfen. Mit 31 Jahren übernahm er hier 1951 die Tierarztpraxis von Dr. Stenert. Jene Praxis, in die der amtierende Tierarzt vor zehn Jahren seinem Onkel Aloys nachgefolgt war. Nun arbeitete mit Hannes Schürmann wieder ein Schürmann als Tierarzt in Wulfen. Im Juli 1955 wurde er zum Beschauungstierarzt bestellt.
Endlich war er da, wo er immer hingewollt hatte. Der Beruf war ihm Berufung. Er war nicht unbedingt der Mann für Hamster, Meerschweinchen oder Pudel. Seine Passion waren die Nutztiere und unter den Nutztieren die Rindviecher. Mit Leib und Seele bei der Sache arbeitete er rund um die Uhr, war Tag und Nacht erreichbar. Er war gerne draußen bei den Bauern auf ihren Höfen, trank mit ihnen Korn zum Abschluss eines erfolgreich durchgeführten Eingriffs, ließ sich mit Vergnügen zu deftiger Hausmannskost einladen. Er liebt es, platt zu sprechen.
Nach zehn Jahren praktischer Arbeit – ohne je einmal in Urlaub gefahren zu sein – packte ihn dann doch für alle überraschend die Lust, die erworbenen Fähigkeiten und Fertigkeiten theoretisch zu reflektieren und mit anderen zu teilen. Er schrieb sich erneut an der Tierärztlichen Hochschule Hannover ein. Im Dezember 1964 promovierte er mit „Untersuchungen über den Eutergesundheitszustand von Milchkuhbeständen innerhalb eines tierärztlichen Praxisbereiches“. Euter, die nicht gesund waren, stellten in seiner Praxis ein schwerwiegendes Problem dar. Dafür brannte Hannes Schürmann. Und so kam es, dass er, der sich früher nie mehr als unbedingt notwendig in theoretische Abhandlungen vertieft hatte, seine Promotionsarbeit hochengagiert und mit „selten großer Sorgfalt und Genauigkeit“ durchführte. Sein Gutachter war beeindruckt: „Die hierbei aufgewandte Mühe geht über das Maß einer durchschnittlichen Dissertation hinaus. Die Untersuchungsergebnisse wurden mit erstaunlichem Fleiß zusammengestellt und ausgewertet.“ Die Arbeit wurde mit „sehr gut“ benotet.
Mit 65 Jahren wurde Hannes Schürmann als Beschauungstierarzt berentet. Da nun auch die Bauern immer mehr Tätigkeiten übernahmen, die früher dem Tierarzt überlassen waren (Kastrationen, Impfungen), ließ er es generell langsamer angehen. Er freute sich, mehr Zeit mit dem Nachwuchs zu verbringen. Schon zu Berufszeiten hatte er, wann immer es seine Zeit erlaubte, die Kinder (nicht nur seine eigenen, sondern auch die der Nachbarn) ins Auto gepackt und gegen Abend über die Feldwege durch die Bauernschaften gefahren. Wenn es im Winter genügend geschneit hatte, zog er sie mit am Auto befestigten Schlitten hinter sich her. Bei den Enkelkindern wurde das später getoppt mit einem regelmäßigen Stop im Wiesental oder bei Flagge, wo Opa Hannes Pommes spendierte. Mit etwas Glück konnte man auf diesen Ausflügen ein paar Hasen hoppeln sehen, weshalb diese Spazierfahrten in der Familie Schürmann „Häschentouren“ hießen. Darüber hinaus ging Hannes Schürmann gern kegeln. Auch seinen ersten Urlaub verbrachte er mit seinem Kegelclub.
Im Dorf wurde er jetzt ebenfalls aktiver. Zum Jubiläumsschützenfest 1983 konnte er seine Frau Gudrun überreden, gemeinsam mit ihm den Schützenthron anzuvisieren. Tatsächlich wurde er nach einem harten Wettstreit mit Heinz Diekert mit dem 53. Schuss Jubiläumskönig. Und man glaubt es kaum, aber auch das tat er in der Nachfolge seines Onkels Dr. Aloys Schürmann, der beim Jubiläumsfest vor 50 Jahren König geworden war.
Nachdem Ende 1983 eine Arbeitsgruppe den Heimatverein Wulfen wieder mit Leben gefüllt hatte, war Hannes Schürmann 1984 einer der ersten, die dem Verein beitraten. Auch damit folgte er seinem Onkel wie auch seinem Vater. Beide gehörten 1922/23 zu den ersten Mitgliedern des Heimatvereins Wulfen und blieben dem Verein treu bis zu ihrem Tod. Als 1. Vorsitzender des Heimatvereins Wulfen 1922 e.V. fand Hannes Schürmann ein neues Betätigungsfeld. Er stand dem Heimatverein bis zu seinem Tod 1991vor und übte einen entscheidenden Einfluss auf das Wirken des Vereins aus.
Im Juli 1985 konnte er das 300. Mitglied begrüßen. Die praktische Arbeit war in Gruppen organisiert. Ein Arbeitskreis verantwortete die „Planung und Durchführung wiederkehrender Veranstaltungen“. Ein anderer Arbeitskreis beschäftigt sich mit Sitten und Gebräuchen.
Es gründeten sich Gruppen zur Pflege der plattdeutschen Sprache und zur Heimatgeschichte Wulfens. Weitere Gruppierungen widmeten sich dem Theaterspiel und Volkstanz, dem gemeinschaftlichen Singen sowie dem Naturschutz und der Gestaltung des Ortsbildes. Auch die alte Tradition der Schnadegänge ließ man wieder aufleben. Nachdem im September 1985 das erste Heimatfest auf dem Matthäusschulhof begangen worden war, lud der Verein zu Beginn des Folgejahres zu einem „Westfälischen Panhas- un Wostbrodetten“ in Kochs Scheune ein und begründete damit eine neue Tradition. Eine Art „Heimatstube“ fand sich im geräumigen Archiv im Keller der Matthäusschule.
Noch immer lag den Wulfenern die Kommunalreform von 1975 und die daraus resultierende Eingemeindung des Dorfes als „Dorsten 11“ schwer im Magen. Eine Aufwertung des Dorfkerns war Hannes Schürmann schon deshalb wichtig. Gemeinsam mit der Wulfener Gewerbegemeinschaft und dem Allgemeinen Bürgerschützenverein ließ der Heimatverein auf dem ehemaligen Gelände des Holtkampschen Hofs (heute Wappenbaumplatz) eine Steingruppe mit dem Wulfener Wappen aufstellen. Als Vorsitzender des Heimatvereins Wulfen gab er als Sinn der Steinsetzung an, Vorsorge dagegen treffen zu wollen, dass der Name „Wulfen“ verschwinden könnte: „Heute, im Zeitalter der Technik und Computer, genügt schon als Ortsangabe bei Post und Behörde einfach die Zahl 11. Da ist es naheliegend, daß der Name Wulfen allmählich verschwindet. Hoffen wir, daß er durch diese Steingruppe auch nachfolgenden Generationen lebendig bleibt….“.
Gleichzeitig lag es Hannes Schürmann besonders am Herzen, dass der Heimatverein Wulfen den Mitbürgern und Mitbürgerinnen im gesamten Wulfener Bereich zur Verfügung stand. Bereits 1986 beteiligte sich der Verein deshalb am Stadtteilfest „Wulfener Woche“ in Barkenberg.
Unter seinem Vorsitz entwickelte sich der Heimatverein bestens. Einzig zwei Vorgänge trüben die Erfolgsbilanz. Da ist zum einen der Vereinsaustritt der gesamten Naturschutzgruppe nach einer sehr unerfreulichen Auseinandersetzung mit dem Vorstand. Auch die Weigerung des Vorstands, die Arbeit der Gruppe „Dorsten unterm Hakenkreuz“ zu unterstützen, war keine verdienstvolle Tat.
Dr. Johann „Hannes“ Schürmann starb am 20. September 1991. Auf Wunsch seiner Frau wurde er in Beverungen, ihrem Geburtsort, beerdigt.
Gudrun „Drüne“ Lutz, geb. Schürmann
Marion Rible